Abstract Images

Christian Schäfer ist in kürzester Zeit in die Weltspitze des Gedächtnissports vorgestoßen. Auch in das Guinnessbuch der Rekorde hat er es bereits geschafft. Während es bei Gedächtnismeisterschaften auch alltagsnahe Disziplinen gibt, stellt die Disziplin “Abstrakte Bilder” eine wirklich außergewöhnliche Herausforderung dar. Wie Christian diese meistert erläutert er uns nun:

Die Disziplin „Abstrakte Bilder“ ist die jüngste Disziplin im Gedächtnissport. Sie wurde im Jahr 2006 eingeführt und löste damit die Disziplin „Text“ ab, bei der es auf internationalen Meisterschaften häufig zu Übersetzungsproblemen kam.

Bei dieser Disziplin geht es darum, die Reihenfolge von schwarz-weißen abstrakten Bildern zu memorieren. Dazu werden jedem Teilnehmer abstrakte Bilder zeilenweise präsentiert. Jede Zeile besteht aus fünf Bildern, deren Reihenfolge es sich zu merken gilt.

 

So könnte die erste Zeile zum Einprägen aussehen:

Bei der Wiedergabe geht es lediglich darum, die richtige Reihenfolge innerhalb jeder Zeile wieder herzustellen, d. h. die Zeilen selbst sind nicht vertauscht.

So könnte die erste Zeile der Wiedergabe aussehen:

abstrakte-bilder-wiedergabe

Auf den ersten Blick erscheint es sicher unmöglich, sich diese „Tintenkleckse“ zu merken. Da sich kein Bild wiederholt, ist es nicht möglich, jedem abstrakten Bild im Vorhinein ein konkretes Bild zuzuordnen (ähnlich dem Master-System). Aber der Grundgedanke, jede zu merkende Information (d. h. hier die abstrakten Bilder) in ein Bild umzuwandeln, scheint auch hier unumgänglich. Deshalb muss es eine andere Möglichkeit geben, die abstrakten Bilder „ergreifbar“ zu machen. Dazu ist man sich unter Gedächtnissportlern weitgehend einig, dass es nur eine schnelle und effektive Lösung dieses Problems gibt: Spontanes Abstrahieren. Beim Betrachten eines abstrakten Bildes versucht man dieses mit einem konkreten Bild in Verbindung zu bringen. Hier spielt folglich die Phantasie eine große Rolle. Um eine passende Abstrahierung zu finden, können sowohl die Form, das Muster als auch die Helligkeit des Bildes betrachtet werden. Ob man nun alle drei Eigenschaften in ihrer Gesamtheit betrachtet oder auf eine ein besonderes Augenmerk legt, ist natürlich jedem selber überlassen. Meine Assoziationen zu den oben einzuprägenden Bildern wären wie folgt:

1. Bild: Beim Betrachten des Musters erinnern mich die Linien an einen Fingerabdruck. Hier würde ich mir also anstelle des abstrakten Bildes einen Finger bzw. eine ganze Hand vorstellen.

2. Bild: Die beiden „Höcker“ im oberen Teil des Bildes erinnern mich an die Höcker eines Kamels. Mit etwas Phantasie könnten die „Spitzen“ links und rechts unten die Füße dieses Kamels sein.

3. Bild: Dieses Bild ist in zwei Teile geteilt, die durch einen schmalen „Hals“ miteinander verbunden sind. Der Teil rechts unten ist dreieckig. Gemeinsam mit dem „Hals“ könnte dieses Dreieck die Spitze eines Blitzes bilden. Im linken oberen Teil sehe ich Zeus, der diesen Blitz vor Wut auf die Erde schmettert. Rechts oben ist sogar sein Kopf zu sehen!

4. Bild: Hier fällt mir das Muster wieder sofort ins Auge. Durch die waagerechten Linien im rechten Teil des Bildes denke ich an eine Mauer aus Ziegelsteinen. Die Linien sind nämlich der Mörtel zwischen den Ziegelstein-Reihen. Da die Linien jedoch nur im rechten Teil des Bildes zu sehen sind, ist die Mauer noch nicht ganz fertig und deshalb einsturzgefährdet.

5. Bild: Beim ersten Anschauen fällt mir sofort die Symmetrie dieses Bildes auf: In die Mitte des Bildes lässt sich eine waagerechte Symmetrie-Achse hineindenken. Die obere und die untere Hälfte des Bildes erinnern an die Flügel eines Schmetterlings. Daher stelle ich mir hier einen nach rechts fliegenden Schmetterling vor.

Die so gewonnen konkreten Bilder lassen sich nun problemlos mit der Routenmethode memorieren. Bei der Wiedergabe geht man im Geiste seine Route wieder entlang und schreibt in jeder Zeile die ursprüngliche Positionsnummer (1-5) unter jedes Bild. Sollte man das Bild eines Routenpunktes mal vergessen haben, ist das in dieser Disziplin gar nicht so schlimm, da beim Betrachten der abstrakten Bilder häufig der „Aha-Effekt“ eintritt und die Abstrahierung eines Bildes (und somit auch das konkrete Bild auf der Route) wieder einfällt.

Neben dem spontanen Abstrahieren gibt es auch andere Möglichkeiten zum Memorieren, wie z. B. jedem abstrakten Bild ein Bild aus dem Master-System zuzuordnen, indem jedes Muster und jede Form (evtl. auch jede Helligkeit) für eine Ziffer steht und sich daraus für jedes Bild eine zweistellige (evtl. dreistellige) Zahl ergibt. Man könnte auch versuchen, die Bilder innerhalb jeder Zeile nach einem bestimmten Kriterium zu ordnen (z. B. nach der Helligkeit), sodass sich jedem Bild eine Zahl von eins bis fünf zuordnen lässt. Dann wäre nur noch das Memorieren einer fünfstelligen Zahl notwendig. Außerdem kann es Sinn machen, nur vier Bilder je Zeile zu memorieren, da sich das fünfte Bild dann im Ausschlussverfahren zuordnen lässt. Diese Variante ist natürlich mit mehr Risiko behaftet. Vielleicht gibt es auch noch weitere deutlich effektivere Methoden, auf die bisher noch niemand gekommen ist.

Mit der oben beschriebenen Methode ist es mir jedenfalls gelungen, bei der Deutschen Gedächtnismeisterschaft 2010 in Heilbronn die Reihenfolge von 313 abstrakten Bildern in 15 Minuten zu merken!

Es gibt also vor allem in dieser Disziplin eine Vielzahl an Möglichkeiten und der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt!

Zum Üben:
Beim Weltverband finden Sie einige Beispielzettel vergangener Meisterschaften.

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